«Unfälle verschärfen Kosten- und Zeitdruck»
Die Suva feiert dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. Ein Gespräch mit Felix Weber, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Suva, über Fortschritte in der Arbeitssicherheit – und weshalb diese für Bauunternehmer auch ökonomisch relevant sind.

«intelligent bauen»: Sagen Sie, Herr Weber, welches ist die riskanteste Tätigkeit, die Sie regelmässig ausführen?
Felix Weber: Vermutlich das Mountainbiken. Das ist potenziell gefährlich, trotzdem mache ich es gerne.
Sprechen wir aber nicht über Hobbys, sondern über die Sicherheit am Arbeitsplatz: Arbeiten wir heute so sicher wie nie zuvor?
Man kann sicher sagen, dass sich die Ausgangslage für die Arbeitssicherheit im Laufe des Jahrhunderts völlig verändert hat. Als die Suva vor 100 Jahren gegründet wurde, ging es hauptsächlich darum, in die Sicherheit damaliger industrieller Maschinen zu investieren. In dem Bereich sind grosse Fortschritte gelungen. Heutige computergesteuerte Maschinen haben mit jenen aus der Gründerzeit der Suva nichts mehr gemeinsam, sodass wir heute insgesamt in einem deutlich sichereren Umfeld arbeiten.
Der Blick in die Unfallstatistik unterstreicht das. Trotz einer zunehmenden Zahl von versicherten Betrieben und Beschäftigten ist die Zahl der neuen Fälle in der Berufsunfallversicherung rückläufig. Auf welche Faktoren führen Sie diese Entwicklung zurück?
Zur positiven Entwicklung hat sicher beigetragen, dass wir gezielt auf Organisationen eingewirkt haben, sich punkto Arbeitssicherheit permanent weiterzuentwickeln. Dies beispielsweise über Richtlinien und Kontrollen. Hinzu kommt, dass wir gleichzeitig versuchten und versuchen, auf das Verhalten der Arbeitenden Einfluss zu nehmen. Dies etwa mit der Etablierung der «lebenswichtigen Regeln», die wir spezifisch mit den jeweiligen Branchenverbänden entwickelt haben. Zum Rückgang der Fallzahlen hat aber auch der strukturelle Wandel in der Wirtschaftswelt beigetragen. Die Berufsbilder und Arbeitsmuster haben sich in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert.
Würden Sie sagen, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz sind heute in der Arbeitswelt breit akzeptiert und verankert?
Ja, mit gewissen Nuancen. Wenn man sich anschaut, was unsere Arbeitsinspektoren bei ihren Kontrollen teilweise antreffen, darf man daran zweifeln, dass dem Grundsatz überall aufrichtig Rechnung getragen wird. In der Breite der Arbeitswelt ist der Sicherheitsgedanke aber als elementarer Faktor verankert.
Welchen Anteil daran würden Sie der Suva zuschreiben?
Einen grossen. Die Suva ist es, die seit Jahrzehnten nicht nachlässt, die Botschaften zur Arbeitssicherheit und zum Gesundheitsschutz zu verkünden und auf deren Umsetzung zu pochen. Und dies, auch wenn es im konkreten Fall unangenehm sein kann. Ich bin überzeugt davon, dass die freundliche Unerbittlichkeit, mit der die Suva den Sicherheitsgedanken verfolgt und vorantreibt, entscheidenden Anteil hat an der positiven Sicherheitsentwicklung in der Arbeitswelt.
Während die Fallzahlen der Berufsunfallversicherung laufend sinken, steigen jene der Nichtberufsunfallversicherung sukzessive an. Heute ereignen sich deutlich mehr Unfälle in der Freizeit als während der Arbeitszeit. Wie ist das zu erklären?
Es ist Abbild einer gesellschaftlichen Entwicklung. Vor 50 bis 100 Jahren wurde zehn, zwölf Stunden pro Tag und sechs Tage die Woche gearbeitet. Im Vergleich dazu haben wir heute viel mehr Freizeit, mehr freie Zeit also, in der sich Unfälle ereignen können. Hinzu kommt, dass viele Berufsbilder heute physisch weniger fordernd sind als noch vor ein paar Jahrzehnten. Das führt dazu, dass der körperliche Ausgleich vermehrt in der Freizeit gesucht wird – mit entsprechenden Risiken.
Zur Gründungszeit hätte wohl niemand daran gedacht, dass sich die Suva dereinst schwergewichtig um Fälle kümmern würde, die in der Freizeit passieren.
Sicher nicht. Damals beschränkte sich das Unfallrisiko der Arbeitenden aus den genannten Gründen fast ausschliesslich auf die Arbeitszeit, sodass man beschloss, die anteilsmässig wenigen Nichtberufsunfälle auch gleich mitzu versichern. Über die Jahrzehnte näherten sich die Niveaus der Fallzahlen jedoch sukzessive an – und kreuzten sich Mitte der 1980er- Jahre. Seither verzeichnen wir mehr Fälle in der Nichtberufsunfallversicherung als in der Berufsunfallversicherung, heute ungefähr im Verhältnis 60:40.
Was tun?
Wir sind im Bereich der Freizeit nicht kontrollierend unterwegs, sondern sehen unsere Funktion hauptsächlich darin, permanent auf Risiken sowie möglichen Schutz zu sensibilisieren. Dies umfasst auch die Sensibilisierung der Unternehmer darauf, dass es für ihre Firma aufwendige Folgen hat, wenn ein Mitarbeiter ausfällt – und zwar egal, ob er während der Arbeits- oder der Freizeit verunfallt. Folgen, die durch die Versicherungsleistung nur zum Teil abgegolten werden. Entsprechend sollte es im Interesse der Unternehmer liegen, ihre Mitarbeitenden nicht nur auf die Sicherheit während der Arbeit hinzuweisen, sondern auch auf jene in der Freizeit.
Während die reinen Fallzahlen in den letzten Jahren sukzessive abgenommen haben, ist die Zahl der anerkannten Todesfälle eher volatil. Weshalb ist das so?
Jeder Todesfall ist eine Tragödie. Und jeder Todesfall ist einer zu viel. Mit zwischen 50 und 80 Todesfällen in der Berufsunfallversicherung bewegen wir uns in einer Grössenordnung, in der Schwankungen leider normal sind. Das sind sie auch, weil in den Auswirkungen von Unfällen gewisse Zufälligkeiten liegen. Ein Sturz aus zwei Metern Höhe kann mit ein paar blauen Flecken ausgehen. Er kann aber auch tödlich enden. In der Präventionstätigkeit verfolgen wir deshalb das Ziel, den Unfall als solchen möglichst zu vermeiden.
Seit 2010 verfolgt die Suva die «Vision 250 Leben». Ziel davon ist es, bis 2020 250 Todesfälle zu vermeiden. Wo stehen Sie in der Entwicklung?
Als wir 2010 starteten, lag der Wert bei 80 Todesfällen in der Berufsunfallversicherung. Ziel damals war es, diesen Wert innert zehn Jahren auf 40 Todesfälle pro Jahr zu senken. Im vergangenen Jahr mussten wir noch 49 Todesfälle verzeichnen. Trotz gewissen jährlichen Schwankungen sind wir also auf gutem Weg. Interessant und frustrierend zugleich ist, dass rund 70 Prozent der Todesfälle in der Berufsunfallversicherung darauf zurückzuführen sind, dass eine oder mehrere der lebenswichtigen Regeln der jeweiligen Branche verletzt wurden. Und wenn man mit involvierten Personen spricht, zeigt sich oft, dass die Regeln eigentlich bekannt gewesen wären. Gelingt es uns also, diese lebenswichtigen Regeln noch besser zu etablieren, dann bin ich überzeugt, dass wir das Ziel unserer «Vision 250 Leben» erreichen können.
Die lebenswichtigen Regeln stehen im Mittelpunkt der sogenannten Sicherheits- Charta, die gemeinsam mit den Sozialpartnern ins Leben gerufen wurde – und die nicht zuletzt an die Eigenverantwortung der Arbeitenden appelliert.
Mit der Sicherheits-Charta bekräftigen unterzeichnende Betriebe öffentlich gegenüber ihren Kunden, Partnern und Mitarbeitenden, dass ihre Angestellten das Recht und die Pflicht haben, «Stopp» zu sagen, wenn sie bei der Arbeit mit einer gefährdenden Situation konfrontiert werden. Sie betonen, dass die Arbeit erst weiterläuft, wenn die entsprechende Gefährdung beseitigt ist – und zwar trotz massivem Kostenund Zeitdruck, wie er etwa in der Baubranche herrscht. Mittlerweile haben sich mehr als 5000 ganz grosse bis ganz kleine Unternehmungen öffentlich zur Charta bekannt. Und die Erfahrung zeigt, dass die unterzeichnenden Firmen die lebenswichtigen Regeln im Alltag noch konsequenter einfordern und umsetzen.
Wenn man auf Baustellen, insbesondere auf grösseren Baustellen, unterwegs ist, hat man das Gefühl, Sicherheitsaspekte werden konsequenter umgesetzt als noch vor 10 bis 15 Jahren. Die Baustellen sind gesichert, die Leute tragen ihre Schutzausrüstung etc. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen?
In der Gesamtbetrachtung, ja. Betrachten wir nämlich das Fallrisiko in der Baubranche, dann ist dieses in den letzten 20 Jahren von rund 260 auf 180 Fälle pro tausend Vollzeitbeschäftigter gesunken, wovon es sich bei rund der Hälfte um Bagatellfälle handelt. Auf lange Sicht schlägt sich die Beobachtung also tatsächlich positiv in unseren Daten nieder.
Innerhalb einer Arbeitergeneration sind auf dem Bau also Fortschritte punkto Sicherheit gelungen. Wessen Verdienst ist das?
Erfolgreiche Entwicklungen im Präventionsbereich sind immer Teamleistungen. Im Bereich der Baubranche ist es das Zusammenwirken der Suva, der Branchenverbände, der einzelnen Unternehmungen bis hin zu den einzelnen Vorgesetzten und Angestellten. Für den nachhaltigen Erfolg braucht es da und dort einen gesetzlichen Anstoss, dann braucht es jene, die die Themen konsequent weiterverfolgen, und schliesslich auch jene, die sie umsetzen. Nicht zu vergessen sind auch die Aus- und Weiterbildungsangebote, in denen die Sicherheit mittlerweile auf allen Stufen elementarer Bestandteil ist.
Ist in der Baubranche irgendwann der Punkt erreicht, an dem man sagen muss: Sicherer geht’s fast nicht mehr?
An diesen Punkt stösst man nur schon deshalb nie, weil sich die Technologien und Prozesse laufend verändern. Gewisse Risiken fallen dadurch weg, andere kommen neu hinzu. Ein Engagement im Sicherheitsbereich wird immer wichtig bleiben – und sei es, um ein bereits gutes Sicherheitsniveau zu halten.
In der Baubranche herrscht ein enormer Preis- und Zeitdruck. Fördert das eher riskantes Verhalten – oder sorgt der Druck eher dafür, dass die Firmen grösseren Wert auf Sicherheit legen, weil man sich Stillstände und Ausfälle nicht leisten kann?
Das müsste man unternehmensspezifisch analysieren. Klar ist, dass ich als Chef darauf setzen würde, die Sicherheit hoch zu gewichten, weil sich Kosten- und Zeitdruck im Falle eines Unfalls nochmals markant verschärfen. Der nachhaltig orientierte Unternehmer versucht das zu verhindern.
Der Basissatz der Prämien bewegt sich bei rund 4 Prozent der Lohnsumme. Die tiefsten Ansätze liegen in der Baubranche ungefähr beim halben Basiswert, also bei rund 2 Prozent der Lohnsumme. Demgegenüber liegen die höchsten Ansätze ungefähr beim doppelten Basiswert, also bei rund 8 Prozent der Lohnsumme. Die niedrigsten und höchsten Prämienansätze unterscheiden sich also um rund den Faktor 4. In einer Branche, in der spitz kalkuliert wird, ist das mit Sicherheit ein Wettbewerbsfaktor.
Letztlich genau die Erkenntnis, dass es für Unternehmer in der Baubranche auch aus ökonomischer Sicht wichtig ist, sich dem Thema der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes zu widmen. Sicherheit ist Teil jedes qualitativ hochwertigen Angebots. Wer sich trotzdem nicht um die Arbeitssicherheit kümmert, bringt sein Unternehmen in eine schwierige Situation, zumal in Zeiten des Fachkräftemangels. Wenn Fachkräfte schon rar sind, wie überall beklagt wird, sollte man sich darum kümmern, dass die eigenen Leute fit an Bord stehen, anstatt verletzt im Spital zu liegen.
Was bedeutet es Ihnen, derjenige zu sein, der die Suva in ihrem 100. Jahr führen kann? Es ist ein schöner Zufall. Im Zentrum des Jubiläums steht aber richtigerweise nicht die Geschäftsleitung, sondern die Suva selbst, die auch nach 100 Jahren noch erfolgreich und aktuell ist.